Heinrich Hahne

T I E F E  S P R Ü N G E

Zu den Bildern von Peter Nagel

Natur und Gesellschaft, die bevorzugten Themen traditioneller Realisten, kommen in den Bildern Peter Nagels kaum vor. Männer und Frauen, zumeist im mittleren Lebensalter, weder Individualisten noch Repräsentanten einer Solidarität, bilden den bevozugten Gegenstand dieser Kunst: gepflegt und kultiviert (…) geben sie sich als die Namenlosen eines aktuellen Zeitstils. Im Minirock die einen, die anderen im Zweireiher mit betonter Bügelfalte, sind sie meistens in zielstrebiger Bewegung. In ihren müderen Stunden suchen sie nicht mehr Zuflucht bei den »Dingen« der Benn-Zeit. Mit Rosen, Amaryllen oder dem Wein im Krug haben sie nichts mehr im Sinn. Sie geben sich weder mythisch noch mystisch und laborieren nicht an den »Seelenentwürfen« eines fragmentarischen Daseins. In ihrer Freizeit hantieren sie mit Attrappen oder Kartons, mit Fäden oder Seilen zur Nutzung wie zum Spiel. Offene Bildräume werden durch eine neutrale, scheinbar monochrome Rückwand und durch eine in der Regel perspektivische Standfläche angedeutet. In ihnen agieren die plastischen Personnagen wie auf einer Bühne. Sie neigen zur Übertreibung bis hin zu unwirklichen Exaltationen. Ein Knabe balanciert ein System von fünf farbigen Stühlen, das von drei Wellensittichen in einer fast klassischen Komposition fixiert wird. Zumeist bilden existentielle Situationen das Aktionszentrum, etwa die Überraschung durch ein Geschenk, ein Witz ohne erkennbare Pointe oder ein Spiel mit Sportgeräten. Um so stärker fällt die immanente Instabilität der Figuren auf. Sie wiegen sich in den Knien, tanzen oder tänzeln und schweben sogar, wenn sie von einem Stuhl in die Tiefe springen. Halten sie an, im Dasitzen zum Beispiel, so bleibt es offen, ob sie, was unwahrscheinlich ist, meditieren oder »abschalten«. Darin und nicht nur im gespreizten Gestikulieren einer Hysterikerin deuten sich Manierismen an, wie sie sich in gewissen Phasen realistischer Grundkonzeptionen bemerkbar machen.

Peter Nagel, dem der Kult des nur Wünschenswerten nicht liegt, der das Fremde oder Befremdliche der Wirklichkeit nicht sucht, um sich damit in Szene zu setzen, dessen Pathos sich nicht in avantgardistischen Übersteigerungen verflüchtigt, stellt sich dem Vorgefundenen bis ins Detail, bis in die Zehenspitzen eines Hundes oder die Maserungen von glänzenden Tulpenblättern. Doch weit von einer realistischen Verdoppelung entfernt, gestaltet er das Typische, in welchem sich das Konkrete verallgemeinert.

Dem dient auch die Farbe, die Domäne dieser unverwechselbaren Malerei. Sie moduliert die Wand eines Raumes aus dem Grau der Ränder hinüber ins Hellere der Mittelfläche. Ein Blau, wenn es den Grundton eines Bildes bestimmt, wird mit ultramarinblauen Pigmenten gesättigt, wie sich auch die Lokalfarbe nicht verdoppelt, sondern im Bildganzen aufgeht. Die Bekleidungen aus reflektierenden Kunstfasern changieren in vibrierenden Effekten. Die farbigen Prismen eines Fußbodens oder unechter Substanzen glitzern wie Kristalle. Sie sind allerdings nicht zeitenspezifisch. Schon Mephisto hat in seinen »Wanderjahren kristallisiertes Menschenvolk gesehen«.

aus: Heinrich Hahne, »Hinsichten«, 1998, Verlag Fr. Staats GmbH